Der nette Kannibale von nebenan

Wer erinnert sich noch an den Kannibalen von Dresden? Ein Polizist aus Sachsen soll sich mit einem CDU-Politiker aus Hannover verabredet haben, ihn nach dessen gewaltsam herbeigeführten Tod zu essen. Also: Niedersachse bringt sich um, Sachse zerlegt ihn waidmännisch fachgerecht und stillt hernach ein kulinarisches Bedürfnis mit dem Körper des Verblichenen. Das ist in vielerlei Hinsicht abstoßend. Es regt aber auch zum Nachdenken an.

Hintergrund des Gemetzels (die BILD hatte über Wochen eine Menge Spaß), war, wir ahnen es, sowas wie eine sexuelle Irritation. Auf Kannibalismus zu stehen, erschwert zwischenmenschliche Erfahrungen wahrscheinlich erheblich. Es stellt sich die Frage, wie Tierchen mit einem solchen Plaisierchen früher, also vor den Zeiten des Internets, überhaupt zueinander gefunden haben. Ganz abgesehen davon, dass diese Form der Fortplanzungsausübung nicht eben zu vielen Nachkommen führt.

Was wiederum nahe legt, dass eine solche Karriere nicht mit Kannibalismus beginnt. Vielleicht erst ein bisschen Latex? Windel-Erotik? Oder ein Uniformen-Fetisch? Ich war unartig, und muss bestraft werden – gerne auch durch Abhacken der rechten Hand? Also: Wie langweilig muss so ein Mensch sexuelle Praktiken finden, die anderen schon die Schamesröte ins Gesicht treiben, dass er bei Menschenfleisch landet?

Hintergrund für diese Gedanken waren zwei Restaurant-Besuche der jüngeren Vergangenheit. Beide Male in Tempeln der gehobenen Esskultur, ausgezeichnet mit einem beziehungsweise zwei Sternen im Michelin Führer. In beiden Fällen gab es gutes Essen, keine Frage. Aber mehr auch nicht. Fand ich zumindest. Nett angerichtet, klar. Alles bio und aus der Region, keine Frage. Handwerklich perfekt. Obwohl, das Ochsenfleisch im Zwei-Sterne-Laden war zäh und zatterig, und nur weil es ein Geschäftsessen war, hat sich keiner beschwert. Aber sonst kein Grund zur Klage.

Nur: Kein Grund zur Klage? Deswegen gibt doch niemand bei klarem Verstand einen dreistelligen Betrag (pro Person) in einer Gaststätte aus. Ich hab mich verstohlen umgesehen. Den anderen Gästen war nichts anzumerken. Keine Enttäuschung in den Augen, keine geflüsterte Kritik. Liegt es am Ende an mir selbst? Hat sich das Monster, das meine Liebe zur Spitzengastronomie geschaffen hat, nach meinem legendären ersten Besuch im Berliner Margaux im Jahr 2001, am Ende selbst verdaut?

Ich erinnere mich an Restaurant-Besuche mit Freunden, da stand während mancher Speisefolge die Welt still. Da haben wir gutturale Entzückenslaute ausgestoßen, angesichts der Geschmacksexplosionen in unseren Mündern („Stöhn-Gang“ nannten wir das). Und heute? Ist das Essen schlechter geworden? Sind meine Geschmacksknospen gealtert? Fehlt mir die Foie Gras, die Tierschützer von den Speisekarten dieser Welt vertrieben haben? Oder bin ich am Ende so abgestumpft, dass kein Chefkoch der Welt mich je wieder wird befriedigen können? Been there, done that? War’s das für mich?

Bin ich also das gastronomische Gegenstück zum Hannoveraner CDU-Mann? So gelangweilt von jeglicher Form der Kulinarik, dass selbst die exklusivsten Spielarten keine Reaktion mehr in mir auslösen? Und wenn ja, wie ist mir zu helfen?

Vielleicht sollte ich es mal mit Menschenfleisch versuchen.