Den folgenden Text habe ich im Februar 2018 als Beitrag für ein Buchprojekt einer Freundin geschrieben, aus dem dann leider nichts geworden ist. Er beschreibt meine ersten Gefühle nach dem Trans-Outing meines jüngeren Kindes im September 2017. Heute hab ich ihn überarbeitet, weil er in gekürzter Version im vierteljährlich erscheinenden Magazin des Stadtteilzentrums Steglitz erscheinen soll, und bei der Gelegenheit gleich hier hochgeladen.
Was tue ich hier? Ich gehöre hier nicht her. Ich bin weiß. Ein Mann, von Geburt an. Heterosexuell. Solider oberer Mittelstand, beruflich erfolgreich, verheiratet, zwei Kinder, Reihenhaus in einem der guten Bezirke der Hauptstadt. Ich bin so wenig Minderheit, wie man es nur sein kann. Ich bin der personifizierte Mainstream. Was habe ich einer Queer-Beratungsstelle zu suchen?
Der Grund sitzt rechts von mir und war bis vor wenigen Wochen meine 14-jährige Tochter Luise. Unser zweites Kind. Die Tochter, die alle Frauen in der Familie sich so sehnlich gewünscht hatten, nachdem Kind Nummer eins als Junge auf die Welt gekommen war. Die Tochter, die teure Puppen geschenkt bekam, ihnen die Haare abschnitt und sie dann in die Ecke warf. Die Tochter, die sich weigerte, Röcke anzuziehen und stattdessen tagelang im dunkelblauen Jogginganzug zuhause rumhängen konnte. Die Tochter, die den eleganten Sport Hockey hinschmiss und in einen Fußball-Verein eintrat. Die Tochter, die meiner Frau vor ein paar Wochen bei einem Arztbesuch mitgeteilt hat, dass sie ein Junge ist.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich habe persönlich überhaupt kein Problem damit. Während mein erster Sohn zahlreiche positive Eigenschaften seiner Mutter hat, war Luise von Anfang an unter gar keinen Umständen in der Lage, mein Erbgut zu leugnen. In guten Dingen, wie der messerscharfen Intelligenz und einer zuweilen fassungslos machenden Auffassungsgabe. Und auch bei den etwas herausfordernden Eigenschaften: unfassbar sensibel, herrlich schnell eingeschnappt, und gesegnet mit der Frustrationstoleranz eines nordkoreanischen Diktators. Schon im Krabbelalter quittierte sie ein freundlich dahingehauchtes “Tabu” – zum Beispiel, wenn sie grad den Finger in die Steckdose stecken wollte – mit einem Heulkrampf, der so lange andauerte, bis sie vor Erschöpfung kotzte. Dieses Kind konnte all die natürlichen Reaktionen ausleben, die mir angesichts meines fortgeschrittenen Lebensalters untersagt waren.
Fehlende mädchentypische Eigenschaften machten mir das väterliche Leben sogar leichter. Jungs waren bei uns daheim ebenso zu Besuch wie Mädchen, ich musste mir keine Kinder-Ballet-Vorführungen ansehen, keine rosafarbenen Spielzeuge ertragen, nicht Emily-Erdbeer-CDs hören. Stattdessen durfte mit ihr zusammen Top Gear im Fernsehen schauen und Blues-Gitarre spielen.
Und, unter uns: Dass dieses Kind möglicherweise auf eine homosexuelle Partnerschaft zusteuerte, damit hatten meine Frau und ich uns angesichts des wenig weiblichen Habitus längst abgefunden. Nichts, was uns weniger hätte schockieren können. Wir leben in Berlin, das 21. Jahrhundert ist weit fortgeschritten – willkommen in der Welt, in der jeder nach seiner Façon selig wird. Haken dran, nächstes Thema. Aber: Transgender? Echt, jetzt?
Dazu kommt noch etwas: Diese ganze Transgender-Geschichte, so richtig ernst hab die die nie genommen. Irgendwie erschien mir diese Randgruppe zu wenig relevant, zahlenmäßig wie auch qualitativ: Es war mir wurscht, wo die pinkeln gehen – aber bitte verschont mich mit Unisex-Toiletten. Ich kann ja schon nicht entspannt, wenn ein Mann in der Kabine neben mir sitzt. Und hört auf, die deutsche Schriftsprache zu strapazieren, indem ihr dem feministischen Binnenmajuskel jetzt noch ein Sternchen zur Seite stellt.
Und jetzt ist meine Tochter transgender? Also gar nicht mehr meine Tochter? Sie ist jetzt mein Sohn? Und ich sitze hier in der Queer-Beratungsstelle und lasse mir von Mari mit der tiefen Stimme und den großen Füßen in eleganten Schuhen erklären, dass etwa zwei Prozent der Bevölkerung Probleme mit der geschlechtlichen Zuordnung ihres Körpers haben (was allerdings nicht gleich bei allen zu einer Trans-Identität führt), dass wir die fortschreitende Pubertät des Kindes bis zu zwei Jahre lang mit einem Hormon-Cocktail aufhalten können, und dass ich mich daran gewöhnen soll, dass mein Kind den Teil seiner Vergangenheit, den es als Mädchen zugebracht hat, als tendenziell schmerzhaft und belastend empfinden wird.
Und wissen Sie was? Das macht mir alles gar nichts aus. Zugegeben, die Hormon-Geschichte war am Anfang etwas gewöhnungsbedürftig, aber unter medizinischen Gesichtspunkten ist es dem Körper egal, ob die Chemie aus einer körpereigenen Drüse oder eine Spritze kommt.
Was mir am meisten zu denken gibt: Ich hab jetzt plötzlich ein Minderheiten-Kind. Eines, um das ich Angst haben muss, wenn es mit irgendwelchen AFD-Wählern zusammen U-Bahn fährt. Eines, dem ich davon abraten muss, die Schönheiten Alabamas zu erkunden. Eines, das selbst Vertreter des gebildeten Bürgertums an die Grenzen ihrer Toleranz bringen kann. Das ist neu, und das fühlt sich nicht gut an. Dass mein Kind plötzlich ein mögliches Opfer von Diskriminierung ist, darauf werde ich eine Weile herumkauen müssen.
Ein Gefühl, mit dem meine Frau und ich gleichermaßen zu kämpfen haben, kommt erst Monate später so richtig bei uns an. Das Kind, unser (zweiter) Sohn, zwischenzeitlich unter Zurücklassung von etwa 20 Zentimetern blonder Haare von Luise zu Jonah geworden, fand sein Leben zwischen Erkenntnis der eigenen geschlechtlichen Identität – was in etwa dem Beginn der Grundschule entspricht – und dem Trans-Outing als oft qualvoll. Das trifft uns ins elterliche Mark. Hätten wir früher etwas merken, anders reagieren müssen? Wie alle Eltern wünschen wir uns, dass unsere Kinder glücklich sind. Jonah war es oft nicht. Das tut weh. Da gibt’s auch nichts mehr dran zu ändern. Das war so nicht der Plan.
Wir haben fast alle alten Bilder aus unserem Haus entfernt. Dass wir er und sie oder ihm und ihr verwechseln, kommt nur noch selten vor. Aber wir haben eben auch vierzehn Jahre lang mit dieser Luise gelebt, die nun bloß noch eine Erinnerung ist, und die wir manchmal vermissen. Das ist schmerzhaft. Auch, weil wir wissen, dass sie niemals wiederkommen wird.
Dafür haben wir jetzt Jonah, den ich Joe nenne, weil ich den Namen cool finde und weil er ein cooler Junge ist. Diesen Joe liebe ich genau so, wie ich Luise vorher geliebt habe. Wenn ich an beide denke, kommen sie mir eher vor wie Bruder und Schwester, nicht wie ein und dieselbe Person. Joe bereichert mein Leben, genau so, wie Luise es früher getan hat. Wir können noch immer zusammen Top Gear schauen und Blues-Gitarre spielen.
Aber was in den vergangenen Monaten ins Unendliche gewachsen ist, das ist mein Respekt vor meinem Kind. Der sich vor die Mitschüler seiner Klasse stellt und ihnen mitteilt, dass er jetzt ein Junge ist. Der Trans-Kinder-Treffen besucht und sich dort engagiert. Der sich nicht versteckt. Und mich damit dazu ermutigt, es auch nicht zu tun.
Wenn ich von meinen Kindern erzähle, dann spreche ich offen darüber, dass ich einen Sohn und einen Trans-Sohn habe. Ich zeige Bilder her, wie jeder stolze Vater es tut. Und ich denke bei mir: Vielleicht ist das auch der Sinn darin.
Wenn wir gesellschaftliche Akzeptanz für Transmenschen bei uns wollen, wo besser können wir dann anfangen, als bei mir? Dem weißen, heterosexuellen Mann mit dem Reihenhaus. Wir haben einiges geschafft in unserem Land in den vergangenen Jahrzehnten, wenn es um die Akzeptanz und Gleichstellung von Minderheiten geht. Wirklich betroffen, wirklich leidenschaftlich interessiert, hat mich das nie. Das hat sich geändert, seit dem Tag in der Queer-Beratungsstelle. Auch dafür: Danke, Joe.